Qualifizierte und flexible Beschulung Zugewanderter muss zur Normalität werden

LAG Bildung

13.10.22 –

Beschluss der Landesarbeitsgemeinschaf Bildung – Bündnis 90/GRUENE Berlin

Eckpunkte für ein Konzept zur inklusiven Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher

In Berlin fehlt nach wie vor ein klares Konzept, das die Rahmenbedingungen für die große gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer inklusiven Beschulung neu zugewanderter und geflüchteter Kinder und Jugendlicher vorgibt und damit die Lehrkräfte entlastet und die Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützt. Es braucht ein solide geplantes und curricular beschriebenes, rechtlich verankertes Bildungsangebot, ein „Ankommenspaket“, das die schnelle Integration der Zielgruppen in die reguläre schulische Bildung ermöglicht und somit deren Chancen an gesellschaftlicher Teilhabe nachhaltig erhöht. Die Voraussetzungen hierfür müssen durch eine entsprechende Frequenzzumessung gewährleistet werden. 

Folgende Aspekte sollten dabei berücksichtigt werden:

  1. Integration in den Regelbetrieb von Anfang an: Neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen eine inklusive Teilhabe an schulischen Unterrichts- und Freizeitaktivitäten ermöglichen.
    • Dazu sollten sie sofort einer Regelklasse verpflichtend zugeordnet werden, sodass sie sukzessive an den Unterrichtsfächern sowie an sozialen Aktivitäten der Klasse wie z. B. Wandertagen, AGs, Ganztagsangeboten von Beginn an teilnehmen und einen Schulplatz garantiert haben.
    • Teambesprechungen zwischen den DaZ-Lehrkräften und den Lehrkräften des Regelbereichs zum Austausch über die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler sollten im Stundenplan fest verankert sein.
  2. Mehrstufiger Übergang: Berlin sollte ebenso wie andere Bundesländer ein verbindliches alters- und kompetenzabhängiges mehrstufiges Übergangskonzept bis zur vollständigen Integration in den Regelunterricht zur Beschulung der Kinder und Jugendlichen mit geringen Deutschkenntnissen entwickeln und verpflichtend einführen. Dieses könnte wie folgt aussehen:
    • Basisstufe: Nach einer Erfassung des Lernstands in Deutsch, Mathematik und Englisch lernen die Schüler:innen neben dem Unterricht in der Regelklasse in einer Vorbereitungsgruppe alltagssprachliche Anforderungen auf Deutsch zu bewältigen und erhalten Fachunterricht sowie Erstsprachlichen Unterricht. Zugleich sind sie aber von Anfang Teil einer Regelklasse, sodass sie an einigen Unterrichtsfächern sowie den sozialen Aktivitäten wie z.B. Klassenfesten und Wandertagen teilnehmen, Freundschaften entstehen und Patenschaften organisiert werden können.
    • Aufbaustufe I: Die Hinführung zur schulischen Bildungssprache steht im DaZ-Unterricht im Fokus, Fachunterricht und Erstsprachlicher Unterricht werden fortgeführt. Jetzt erfolgt eine schrittweise Integration in den Unterricht der Regelklasse nach individuellem Stundenplan.
    • Aufbaustufe II: Nach erfolgtem Übergang in die Regelklasse erhalten die Schüler:innen weiterhin verbindlich Förder- und Stützunterricht mit einer garantierten Stundenzahl sowie Unterricht in der Erstsprache.
    • Jüngere Kinder und Schüler:innen mit hinreichenden Sprachkenntnissen können sofort vollständig am Regelunterricht teilnehmen und erhalten Unterstützung (Aufbaustufe II). Für ältere sowie für Jugendliche mit geringer Schulbildung sollten spezielle und passgenaue Unterstützungsangebote zur Erreichung der Bildungsabschlüsse und für einen fairen Anschluss an Regelbeschulung, auch im Sinne gymnasialer Bildung, entwickelt werden.
  3. Deutsch als Zweitsprache (DaZ) als ordentliches Schulfach anerkennen, mit verpflichtendem Curriculum und vereinheitlichter Qualifizierung der Lehrkräfte.
    • Das Curriculum sollte sich am europäischen Referenzrahmen orientieren und neben der Entwicklung alltagssprachlicher Kompetenzen auch die Hinführung zur Bildungssprache sowie die Vermittlung von Lernstrategien beinhalten. Durch eine Weiterführung der Förderung neben dem Unterricht der Regelklasse sollte Schüler:innen, je nach angestrebtem Schulabschluss, das Erreichen des Niveaus C1 ermöglicht werden
    • DaZ-Lehrkräfte sollten ebenso wie andere Lehrkräfte ein Referendariat absolvieren, sodass ein einheitlicher Qualitätsstandard gesichert ist und Beschäftigungsbedingungen und Bezahlung sich nicht länger von anderen Lehrkräften unterscheiden. Dabei sollten auch Erfahrungsjahre angemessen berücksichtigt werden, damit auch erfahrenen DaZ-Lehrkräfte keine Nachteile entstehen.
    • Verankerung des Faches als Schulfach in den Stundentafeln der Schulstufenverordnungen und als Prüfungsfach für das Lehramt in der Lehramtszugangsverordnung.
  4. Verpflichtende und einheitliche Sprach- und Lernstandserhebung: Sprachstand und fachliche Kenntnisse verbindlich mit einheitlichem Instrument erfassen und daraus individuelle Lern- und Förderpläne entwickeln. Zur Lernstandserfassung sollte auch die Herkunftssprache einbezogen werden.
    • Das von der Bildungsverwaltung bereits angeschaffte online-basierte Diagnosetool „2P - Potenziale und Perspektiven“, das Lernstände in DaZ, Englisch und Mathematik erfasst, sollte flächendeckend verpflichtend als Lernbegleitinstrument für alle jungen Menschen ab dem 10. Lebensjahr eingesetzt werden. Es sollte für die Grundschule angepasst werden.
    • Aus den Ergebnissen der Lernstandserfassung sollten verbindlich individuelle Lehrpläne oder Förderpläne abgeleitet werden - nicht nur für DaZ, sondern auch für Englisch und Mathematik.
  5. Fachliches Lernen auch in der Herkunftssprache von Anfang an gewährleisten und damit eine Kontinuität in der Bildungsbiografie ermöglichen
    • Von Beginn der Schullaufbahn an müssen auch die Kenntnisse in Mathematik und Englisch so gefördert werden, dass die Schüler:innen beim Übergang in die Regelklasse auf das Niveau der jeweiligen Klassenstufe vorbereitet sind.
    • Ebenso soll den Schülerinnen und Schülern, wie in § 15 SchulG vorgesehen, Erstsprachlicher Unterricht angeboten werden, und zwar in ausreichender Stundenzahl in Grundschule und Sekundarstufe I sowie mit zeugnisrelevanter Evaluation.
    • Die Berliner Bildungsverwaltung muss eine verbindliche Stundentafel vorgeben, in der von Anfang an Stunden zum fachlichen und sprachlichen Lernen in der Erstsprache vorgegeben sind.
  6. Förderung auch nach dem Übergang ins Regelsystem: Für die Zeit nach dem vollständigen Übergang ins Regelsystem muss es einen verbindlichen Anspruch auf eine Förderung mit einer festgelegten Mindestanzahl von Stunden geben.
    • Um diesen Anspruch zu realisieren, müssen die dazu benötigten Sprachförderstunden den Schulen pro Schüler:in (und nicht wie derzeit pauschal pro Schule) zugewiesen und ihre Erteilung garantiert werden.
    • Für Stützkurse und individuelles Coaching sollte Berlin auch herkunftssprachliche Lehrkräfte einstellen und damit auch geflüchteten Lehrkräften einen Berufseinstieg ermöglichen. Grundlegend ist aber auch die Qualifizierung und Sensibilisierung der Lehrkräfte für sprachsensiblen Unterricht.
  7. Regelmäßige wissenschaftliche Evaluation muss verpflichtend werden. Zur Qualitätssicherung und Optimierung sollte die Einführung des neu entwickelten Beschulungskonzepts wissenschaftlich begleitet werden. Untersucht werden sollten über den Ansatz der Wiko-Studie von 2021 hinaus:
    • Der Bildungserfolg der zugewanderten Schüler:innen  nach dem vollständigen Übergang ins Regelsystem in Abhängigkeit vom jeweiligen Beschulungsmodell.
    • Die Betroffenheitsperspektive: Welchen Unterstützungsbedarf sehen die zugewanderten Schülerinnen und Schüler für eine erfolgreiche Teilhabe?

Begründung

Die Willkommensklassen (Wikos) bereiten unzureichend auf die Regelbeschulung vor:

  • Der Unterricht ist konzeptionell auf Deutschlernen reduziert – allerdings ohne ein Curriculum und ohne didaktische Qualifizierung der Lehrkräfte.
  • Mathematik, Englisch, Natur- und Sozialwissenschaften sowie Erstsprachlicher Unterricht werden in Wikos konzeptionell ausgeklammert – so entstehen Lernrückstände bzw. bestehende Lernrückstände werden vergrößert. Zudem fehlt eine Hinführung auf die für die Fächer benötigte Bildungssprache.
  • Es gibt keine systematische Lernstanderfassung, mithin keine gezielte Unterstützung bei der Fortsetzung der Lernbiografie.
  • Da die Wiko-Schüler:innen  von den Regelschüler:innen organisatorisch abgesondert  unterrichtet werden, gibt es wenig Gelegenheiten für soziale Kontakte – das behindert die Integration und den Spracherwerb.
  • Die Separation dauert ein bis zwei Jahre: Die Wartezeiten vor der Wiko-Beschulung sind ebenso normalisiert wie die Wartezeiten beim Übergang in Regelklassen – eine altersgemäße Beschulung ist danach kaum noch möglich.
  • Die Wikos sind personell wie finanziell unterausgestattet.

Dieses Modell ist wenig erfolgreich. Die von der Berliner Bildungsverwaltung beim Leibniz Institut für Bildungsforschung in Auftrag gegebene Studie „Evaluation der Willkommensklassen in Berlin“ (2021) zeigt auf, dass Berliner Schulleitungen mit Willkommensklassen mehrheitlich davon ausgehen, dass die Schüler:innen nach dem Besuch einer solchen Lerngruppe nur unzureichend auf die Anforderungen des Regelunterrichts vorbereitet sind. Nach ihrer Einschätzung kann nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler sechs Monate nach dem Übergang dem Regelunterricht angemessen folgen und auch nach anderthalb Jahren haben noch über 40 % große Probleme dabei.[1] Die Studie endet mit drei Kernbefunden, die Ansatzpunkte für Veränderung bieten: Dem Fehlen klarer Rahmenvorgaben für den Unterricht in Wiko-Klassen, deren personeller Unterausstattung und dem fehlenden Austausch zwischen Willkommens- und Regelklassen, der sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrkräfte betrifft.[2] Es herrscht also dringender Handlungsbedarf.

Autor*innen:
Brigitte Schulte, Stefan Nowack, Werner Behrendt, Willi Stotzka (Fokusgruppe Mehrsprachigkeit in der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung)


[1] Leibnitz Institut für Bildungsforschung (2021) „Wiko-Studie – Zusammenfassung zentraler Befunde aus der wissenschaftlichen Evaluation der Berliner Willkommensklassen“, S. 9 f.

[2] s.o., S. 15 ff.

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